Rabbi Awraham Soetendorp* im Gespräch mit Ministerpräsident Jan Peter Balkenende und Kabinettsmitgliedern
Foto: didebak

Interreligieus gelegenheidskoor
unter der Leitung von Rien van der Werff
Foto: didebak

Spirituelle Unterweisung der Jugend durch Rabbi Awraham Soetendorp (* Vorsitzender der Programm – Kommission der Stiftung Prinsjesdagviering)

Fotoreihe: Joop Dankbaar

„Bitte still sitzen!“
Zum Abschied Gruppenfoto der Niederländischen Jugend
mit Leo Lebendig unter der Himmelssäule

Foto: Gerhard P. Müller






Die Armut des Reichtums
(Übertragung aus dem Niederländischen durch Dr. Fritz Hofmann)

Wir stehen am Anfang der „Kreditkrise“. Ich gehe durch ein Pflegeheim, wo ich als geistlicher Fürsorger tätig bin. Und plötzlich sagt jemand: „Dies alles mit Dank an Sie“. Verblüfft schaue ich auf. Ein Heimbewohner sitzt da auf einer Bank, scheint in der Zeitung gelesen zu haben; er zeigt in meine Richtung und fährt fort: „Ich beobachte Euch Humanisten.“
Ich setze mich zu ihm und frage, was er denn beobachte. Der Mann sagt: „Ihr Humanisten seid doch so für persönliche Entwicklung und individuelle Freiheit - dies ist das, was dabei herauskommt: Wir sind reicher als früher, aber geistlich sind wir arm, weil wir nur für uns selbst auswählen: unser eigenes Glück, unseren eigenen Besitz. Wir treffen nur die Auswahl, die uns allein zu Gute kommt und denken nicht an die anderen Menschen. Daher kommt diese Krise.“ Ich denke darüber nach, was der Mann da sagte. Er hat den Punkt getroffen. Der individuelle Reichtum in den Niederlanden ist größer als je zuvor. Er fordert seinen Zoll, seinen Preis; der Druck auf die Menschen wird stets größer. Man macht mit in dem Bemühen um materielle Güter, um durch sie vor allem das eigene Glück zu erwerben. Dieser Motivationsdruck bleibt nicht ohne Folgen. Die Zahl der Mitmenschen wächst, die dem Tempo und dem Druck der Gesellschaft nicht mehr folgen, nicht mehr begegnen können und die folglich aus dem Rahmen der Gesellschaft fallen. Auf der anderen Seite nimmt man sich stets weniger Zeit für die Schwächeren, wendet sich ihnen nicht zu – den Schwächeren, den Kranken, den Älteren, denen, die Fürsorge nötig haben. Daneben wird die Umwelt belastet, durch Überkonsumieren und durch die produzierten Abgase und Abfallberge.

Unter dem Aspekt mitmenschlicher Hinwendung und Fürsorge sowie unter dem Aspekt der Umwelt ist dieser vorhandene „Reichtum“ reichlich armselig. Er ist ein externer Reichtum, der sich nur bekümmert um Güter und Geld. Und nun begreife ich den Mann mit der Zeitung im Pflegeheim gänzlich, wenn er sagte, wir seien reicher als früher, aber geistlich arm jetzt. Wenn Humanismus sich heute allein bezieht auf die eigene Freiheit und auf die eigene Selbstverwirklichung, dann dürfte der Mann mit der Zeitung im Pflegeheim Recht haben mit seiner Kritik am Humanismus. Humanismus wäre ein Beitrag zu materiellem Reichtum. Humanismus wäre beteiligt an der geistlichen Verarmung der Menschen in dieser unserer Zeit. In der Tat ist Humanismus weiter, tiefer greifend als „Verwirklichung individueller Freiheit“.
Zur Erläuterung von „Humanismus“ gebraucht der Humanistische Bund denn auch dieses Motto: „selbst denken, zusammen leben“. Der Mensch ist verantwortlich für sein/ für ihr Leben, für die Entscheidung, die er (sie) trifft. Der Mensch ist frei, um zu denken, zu untersuchen, was er will, um Richtung für sein eigenes Leben zu schaffen. Der selbstverantwortliche, in Freiheit denkende Mensch ist nicht mehr ein absoluter „Solo-Mensch“. Denn wir Menschen bilden Teile von Familien, Gruppen, Zusammenleben, von Welt. Zusammen mit anderen Menschen sind wir „Mensch der Menschheit“. Humanisten streben deshalb ein menschenwürdiges Leben für jeden an. Das will sagen wir sorgen füreinander und für die Welt, auf der wir sind, sowie für die Natur, in der wir leben. Und das leisten wir nicht, weil der Staat oder eine bestimmte Religion das von uns verlangt, sondern weil wir alle Menschen für uns nötig haben und weil wir deshalb alle füreinander verantwortlich sind. Daher ist Reichtum für Humanisten nicht Reichtum von Individuen allein. Es geht notwendiger Weise stets um das Streben nach einem würdigen Leben für jeden Menschen. Immer, wenn durch individuelle Gier nach Materie und Geld dieses Streben unter Druck zustande kommt – ja, dann spricht man von der Armut des Reichtums.

Das ungefähr war meine innere Reaktion auf die Bemerkung des Mannes im Pflegeheim. Meine wahrnehmbare Reaktion berührte ihn, ehrlich gesprochen, wenig. Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung und beachtete mich nicht mehr. Das macht nichts; aber durch Suchen nach einer Antwort hatte ich mich selbst zu einer wichtigen inneren Rechenschaft gezwungen, nämlich dazu, dass es nicht darum geht, wie viel Geld auf meinem Bankkonto arbeitet, ob ich ein neues Haus gekauft habe, ob ich schöne neue Kleidung besitze. Wirklicher Reichtum besteht darin, sich nach anderen Menschen sorgsam umsehen zu können, somit sich dafür einzusetzen, dass ein jeder Mensch auf adäquate eigene Weise ein gutes Leben führen kann.

Wessel Jenner-Klarenbeek,
Sekretär Humanistisch Verbond Afdeling Haaglanden